Was Sloterdijks hochamüsante Gegenwartsanalysen des Menschen mit meinen Weihnachtsplätzchen zu tun haben
An Weihnachten zu viele Plätzchen zu essen, führt in den meisten Fällen dazu, dass schon zu Sylvester die Hose spannt. Doch Gott sei Dank, ich bin ein Selbstfindling, wie Peter Sloterdijk die Erfahrung des Menschseins in seinem Buch 'Weltfremdheit' 1993 kennzeichnet. Als solcher bin ich "auf (mich) selbst gestoßen und kann (mich) nicht brauchen".
Wahrscheinlich hat Sloterdijk nicht den Moment im Sinn, in dem ich mich zu ein paar Runden Jogging zu Gunsten meiner Beinkleider aufraffe. Doch legt er einen meisterhaft eloquenten Philosophenfinger auf die Ursprungsverwandtheit vom "Ich der Helden und Propheten mit dem der migränischen und hypochondrischen Subjekte". Will heißen, wenn ich mit den Plätzchen im Bauch joggen gehe, habe ich gewählt, und bin ein Held?
So einfach geht das vielleicht nicht. Sein Buch 'Du mußt dein Leben ändern' von 2009 thematisiert schliesslich auch die Frage, wer diesen Imperativ überhaupt formuliert. Wenn mehr auf dem Spiel steht als meine Weihnachtsplätzchen, also meine "aktuelle Verlegenheit, ein Mensch zu sein", meine Conditio Humana, dann weist diese Frage in einen historisch-kritischen Bereich von Ideologien.
![](https://static.wixstatic.com/media/a7146e_2b2c6b46d62041199be28ac28091eadb~mv2.jpeg/v1/fill/w_980,h_656,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_avif,quality_auto/a7146e_2b2c6b46d62041199be28ac28091eadb~mv2.jpeg)
'Wandel', Regensburg, 2009 © Dr. Christine Lehr
Wer nämlich gibt denjenigen Wesen vor, was zu tun sei, "die sich zu ihrer eigenen Vertikalspannung verhalten müssen, Geschöpfe also (sind), die von dem Stress des Mehr- oder Weniger-aus-sich-machen-Könnens nicht entlastbar sind"? In 'Nach Gott' von 2017 unterscheidet Sloterdijk gewohnt amüsant zwischen Vertikal- und Horizontalspannungen, und benennt die Rolle, die so etwas wie Gott dabei durch die Zeiten zugewiesen wird.
Mit intellektueller Leichtigkeit werden diese Spannungsgefüge durch gesellschaftliche Epochen und ihre jeweiligen Organe dekliniert. Begriffliche Schwergewichte wie Staat, Religion, und Menschen in diesen Gefügen, jongliert Sloterdijk zu einer extraordinären Kulturanalyse, die den aufgeweckten Leser angenehm benommen stimmt (es beruhigt ihn, nicht allein zu sein), und dem von vornherein ernüchterten Leser den erhofften Rausch verschafft. Plätzchen ohne Reue sozusagen.
Dass Herr Sloterdijk kurioserweise 1978 bis 1980 im indischen Ashram von Osho lebte, mag die Titel eines Großteils seiner Werke mitbedingen. Insbesondere auf die Lektüre seiner aktuellen Monographie 'Den Himmel zum Sprechen bringen' von 2020 freue ich mich diesen Herbst, hoffe zur Werklektüre angestiftet zu haben, und werde von der eigenen berichten!
Comments