Seinsvergessenheit siebzig Jahre später
„Die Wissenschaft denkt nicht“, so das Credo Martin Heideggers in seiner Vorlesung „Was heißt Denken“ im Jahr 1951. Er unterstellt damit besonders den Naturwissenschaften eine Seinsvergessenheit, ein Ausblenden des für ihn wichtigsten Bedeutungszusammenhangs von Sein und Seiendem. Während sich Physiker beispielsweise Einzelphänomenen wie etwa Gravitationswellen oder verschränkten Zuständen widmen, wird für dessen deskriptive Analyse die Welt, der Kosmos als sinnstiftender Seinshintergrund auch siebzig Jahre nach Heidegger ignoriert, und entsprechend entzaubert.
Unbestreitbar ein materialistisches Paradigma, das weitreichende Fortschritte auf allen Gebieten menschlicher Kultur und Gesellschaft feiern kann. Interpretative Impulse hinsichtlich einer adäquateren Verortung des Menschen im Kosmos jedoch bleibt eine solche Haltung bis heute schuldig. Insbesondere jene akademischen, naturwissenschaftlich informierten Disziplinen, die sich mit Fragen zum menschlichen Bewusstsein befassen, kommen über eine provinzielle Anerkennung der Seinsvergessenheit, dieser schon vorsokratisch kosmologischen Ahnung, nicht hinaus.
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'Synchronizität', Regensburg, 2022 © Dr. Christine Lehr
Das Gehirn erforscht sich selbst - wem antwortet dieses Ich?
Kognitive Neurowissenschaften beispielsweise hadern nach wie vor mit einer kartierenden Integration ihres epistemisches Caveats. Das bedeutet, dass kein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, wenn sich das zu Erklärende mit dem Erklärenden deckt. So kann man nur davon etwas wissen, was man sich denken und vorstellen kann. Alles andere existiert auf dieser Landkarte suspendierten Sinns nicht. Innerhalb eines solchen Materialismus interagiert mein Ich zwar inspiriert durch "äußere" Reize mit anderen isolierten Individuen, doch antwortet es auf die so forcierte Unverfügbarkeit des Zaubers mit deren permanenter Kompensation.
Leider Gottes stellt sich damit keine angstbefreite Erschöpfung wie im Angesicht der Belohnungskiste beim Zahnarzt ein. Denn ist der Weisheitszahn kohärenter Objektivierbarkeit erst gezogen, mangelt es Seinsvergessenen an plausibleren Sinnangeboten. Natürlich wäre eine abendländlich dogmatische Orientierung keine Alternative, schliesslich haben derlei Navigationssysteme noch kein positivistisches Update erfahren. Und so blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder man fragt sich durch, oder fährt einfach drauf los.
Entzugsgegenstände im Zauber ihrer Synchronizität
Auf den ersten Blick kontraintuitiv, auf einen genaueren Blick zauberhaft ergiebig. Ein Gedankenexperiment - Sie sind ein jugendlich materialistisch abgeklärter Molekularbiologe, der die Evolution des Auges erforscht. Ihre Heldenreise und Ihr Staunen beginnen an einer Theke eines 7-Eleven Shops, an der Sie 11 Dollar und 11 Cent bezahlen. Sie steigen in einen Bus der Linie 11 und an der Haltestelle, an der Sie aussteigen, werden Sie ein irisierendes Werbeplakat gewahr mit einem der wichtigsten Augenpaare sowohl Ihrer naturwissenschaftlichen Karriere als auch ihres Lebens.
Der Film 'I Origins - Im Auge des Ursprungs' von 2014 übrigens eine besondere Filmempfehlung. Nun werden Sie, ganz im Sinne C. G. Jungs nicht annehmen, dass diese Begebenheiten einen kausalen Zusammenhang hätten. Sie sind nicht in den Bus eingestiegen aufgrund der Zahlen auf Ihrer Quittung. Und standen nicht schliesslich vor der Reklametafel weil Ihr Bus die Linie 11 war. Wahrscheinlicher registrieren Sie zwar derlei Koinzidenzen, verorten sie semantisch jedoch als Zufall, dessen Bestandteile sich rapide wieder in alle Himmelsrichtungen der Zeit zu entziehen scheinen.
Archetypisch antwortet der Kosmos
Und der Himmel ist die makrokosmologische Adresse, an die sich die Jungsche Idee der Synchronizität strukturäquivalent versenden lässt. Denn während in unserer Alltagsrealität ständig Ereignisse von akausalen Synchronizitäten begleitet werden, deren Bedeutungszusammenhänge wir nur auf den ersten Blick selbst stiften, so verhüllt unsere lebensweltliche Perspektive auf solche Ereignisse naturgemäß deren astronomisch noch gewichtigere Trabanten. Will heißen, die Quittung über 11 Dollar und 11 Cent bringt zum einen weit weniger Gramm auf die Waage als beispielsweise der Gasplanet Jupiter Tonnen.
Zum anderen bürgt doch nicht das physikalische Gewicht für die tiefenpsychologische Bedeutung, wenn die Bewegungsbahnen der Planeten oder das Driften von Galaxien mit unseren biographisch relevanten Ereignissen faktisch aber lediglich einhergehen? Ein Blick in den Briefwechsel Jungs mit dem Physiker Wolfgang Pauli der Jahre 1932-1958 deutet genau das an - Der astronomische Kosmos steht in einem sinnhaften Resonanzverhältnis zu unserem emotionalen Kosmos.
Beide verwenden Archetypen als Vokabular. Tiefenpsychologisch apriori als unbewusst gedacht, kann ein Archetyp als Farbe einer Erfahrung verstanden werden. In diesem Sinne arbeitete der komparative Literaturwissenschaftler Joseph Campbell, stark beeinflusst von Jung, 1949 beispielsweise seine Version der Heldenreise aus. Der Held als Archetyp, der Stationen einer Reise zu meistern hat, die universal und monomythisch angelegt ist, wonach narratologisch jede kulturell differenzierte Heldenreise eine Variation derselben Geschichte, desselben Archetyps spiegelt.
Paradigmenwechsel oder das Dilemma der Freiheit
Den je individuellen Sinn bezieht ein synchrones Ereignis aus seiner archetypischen Symbolkraft. Die geringe Häufigkeit derartiger Resonanzen mag die persönliche Wichtigkeit wie die Kontingenz des Ereignisses in dem Maße unterfüttern, wie man sich bereits der agnostischen Ansicht entledigt hat, der Mensch sei eben ein Muster erkennendes Wünschewesen. Archetypische Symbole oder Kategorien können zugestandener Weise jedoch nicht jenseits philosophischer Universalienproblematik auf das Parkett weltharmonischer Schwärmereien geführt werden.
Um diese in eine notwendige, wissenschaftliche Revolution zu überführen, bedarf es außerdem des Wunsches, es akademisch wissen zu wollen, des Mutes, empirische Updates selbst, als eine von Objektivierbarkeit befreite, erste Person Singular, durchzuführen, und des daraus resultierenden Staunens über die Teilhabe der ersten Person Plural an archetypisch koloriertem, kollektivem Unbewussten. Auf die Frage, wem nun der Kosmos antwortet, bleibt anzumerken, dass bei manchen Menschen Zeit ihres Lebens kein Weisheitszahn durchbricht. Der tut dann aber auch nicht weh.
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