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Von der letzten Freiheit - DiaLogos im japanischen Haus des Seins

Heidegger und die Kyōto-Schule oder wie man im Denken das Denken aufgibt


Es geht um die Freiheit. Eine besondere Freiheit. Die letzte Freiheit. Die Philosophie hält verschiedene Ideen über Freiheit bereit. Da wäre die Willensfreiheit, die Handlungsfreiheit, oder diverse Arten der Selbstbestimmung. All diese Themenbereiche sind sowohl jeder für sich genommen sehr voraussetzungsreich, wie auch grundsätzlich an dem vorbei, worum es hier gehen soll.

Jedwede philosophische Annäherung an das Thema Freiheit setzt bestimmte Begriffe, beispielsweise solche sozialer Agenten, moralischer Indikationen, oder und besonders des menschlichen Selbst bereits voraus. Daneben impliziert eine philosophische Herangehensweise per se eine denkerische Auseinandersetzung mit dem Thema. Im Denken wird der Frage nachgegangen – Wer oder Was ist Wie, Wo oder Wann frei.


'shikan-taza no. 1', 2022 © Dr. Christine Lehr


Mit zwei der größten Dilemmata der Freiheit


Doch das Problem mit dem Denken ist immer seine zeitlich nachgeordnete Referentialität. Das bedeutet, die Unmittelbarkeit der Erfahrung kann in Sätzen, die von ihr berichten, niemals substanziell eingeholt werden. Ich klemme mir zum Beispiel meinen Finger in der Tür des Kleiderschranks ein. Später erzähle ich, ich hätte mir den Finger in der Tür des Kleiderschranks eingeklemmt. Auf den Schmerz dieser Erfahrung kann ich in meiner Rede davon nur noch referieren. Die Substanz der Erfahrung ist gänzlich verschieden von derjenigen des Nach-Denkens oder Sprechens darüber.


Warum ist nun das Sprechen über Erfahrung problematisch für die Freiheit? Die Sprache möglicherweise sogar ein Dilemma der Freiheit? Sprache birgt immer eine zeitliche Dimension – man informiert sich gegenseitig über Dinge und Ereignisse der Vergangenheit, sorgt sich in unterschiedlichen Färbungen über die Zukunft, oder bewertet beiderlei. Erfahrung jedoch findet immer nur in der Gegenwart statt, um etwas zu erleben, ist Sprache nicht nötig. Sprache entfernt einen sogar aus dem jeweiligen Augenblick. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, Vergangenheit und Zukunft gibt es gar nicht. Zeit eine große Illusion.


Aber ich treffe mich doch heute Abend um 19 Uhr mit Martin, könnte man einwenden, so ist Zeit doch keine Illusion! Bewährter Weise orientieren wir uns alltagssprachlich am Stand der Sonne, um Erledigungen zu tätigen oder Verabredungen einzuhalten. Meint man es allerdings ernst mit der Freiheit, will nicht nur eine abstrakte Idee philosophisch ausloten, sondern im besten Fall selbst frei sein, ist diese Freiheit nur im Augenblick zu finden. So lassen Sie uns den Augenblick wagen. Es ist 19 Uhr geworden und wir treffen Martin.


Über Holzwege in der Dämmerung


Wir sehen ihn schon von weitem durch den Schwarzwald waten, und mit ihm zieht das zweite Dilemma der Freiheit auf. Er scheint ein Anderer als wir zu sein. Gemeinsam gehen wir ein Stück des grau verhangenen Feldweges und er versichert uns, stets schon um die Auflösung einer Dualität von Sein und Seiendem bemüht zu sein. Schliesslich läge seinem gesamtem Gedankengebäude die Maxime zu Grunde, im Denken das Denken aufzugeben. Eine seltsame Forderung, wundern wir uns, verlässt er doch mit seinem Werk nie die Sphäre der Philosophie.


'shikan-taza no. 2', 2022 © Dr. Christine Lehr


Martin rückt sich die Knickerbocker in der Dämmerung zurecht. Seinem Bestreben einer existenzialen Analytik des Menschen als Seiendem sei doch wohl die Ahnung zu entnehmen, dass der Mensch mehr mit seiner Welt zu tun habe, als eine dualistisch gefärbte Rede von einem oft genannten Selbst es zulasse. Wir spinnen einen exotischen Faden hinzu, denn ähnlich wie das Begriffspaar atman und brahman, das in indischer Philosophie einen inkludierenden Zusammenhang von individueller und allumfassender Seele umschreibt, scheint seine Rede von Seiendem und Sein auf Ähnliches abzuzielen?


Ein besonderes Haus des Seins wagen


Auf ein besonderes Haus des Seins, in der Tat! So zumindest nennt er denjenigen Bereich japanischer Philosophie, der sich mit dem Buddhismus befasst. Tretet ein, weist uns Martin den Eingang in eine Hütte, zu der uns einige schwer begehbare Holzwege geführt haben. Sie ist spartanisch ausgestattet. Ein seltsames Gefühl macht sich in uns bemerkbar, als wir auf einer Holzbank Platz nehmen, er eine Kerze anzündet. Sie erhellt einen Raum, dessen Stille von anderer Qualität ist als die des abendlichen Waldes. Hier herrscht nicht die Abwesenheit von Geräuschen, vielmehr fällt uns etwas Ungewöhnliches auf.

Wir sind ganz Da. Während uns unsere Fragen abhanden gekommen scheinen. Gedanken haben sich verflüchtigt. Liegt das am Sake, den Martin uns mit einem verschmitzten Lächeln einschenkt? Oder an dem wesentlichen Umstand japanischen Denkens, das okzidentale Sein semantisch niemals nihilistisch, sondern als eine der oriental wirkmächtigsten Ideen überhaupt auszudeuten – die der Leere. Besonders im japanischen Zen-Buddhismus, dem häufig der Vorwurf des Nihilismus gemacht wurde und wird, steht dessen hehres Ziel der Erleuchtung in unbedingtem Zusammenhang mit der Leere. Das Vernehmen und Bleiben (in) einer solchen Sphäre ist die Freiheit.


Um Hineinzustehen in das Nichts


Doch wie gelangt man in solch köstliche Sphären lichter Leere? Schliesslich bewirtet einen nicht täglich Herr Heidegger persönlich in seiner Todtnauberger Hütte, so wie vielleicht einst seine japanischen Kollegen Tanabe Hajime, Kuki Shūzō oder Nishitani Keiji in den zumindest fiktiven Genuss kamen. Seit den 1920er Jahren, erzählt uns Martin, wäre es die zentrale Verortung einer besonderen Idee in seinem Denken gewesen, die nicht nur Dualitäten existenziell kontrastiert, sondern auch fruchtbare Verbindungen zu japanischer Philosophie gestiftet hätte - die des Todes.


'shikan-taza no. 3', 2022 © Dr. Christine Lehr


Im Kerzenschein entsinnen wir uns unseres Daseins, in 'Sein und Zeit' gedeutet, als Hinlaufen auf den je eigenen Tod. Ist denn Freiheit dann erst im Tode möglich? Zumindest das Denken würde dann zu einem Stillstand kommen? Ein kühler Windstoß schlägt das kleine Fenster hinter uns auf. Zügig wird uns unbehaglich, die Kerze vor uns flackert. Doch aus seinem verschmitzten Lächeln wird ein besänftigendes, als er uns vorschlägt, das Pferd eben von hinten aufzuzäumen.


Man brauche nicht zu sterben, um frei zu sein, das wäre philosophisches Geschwätz. Die Leere ist nicht Nichts. Der Tod essentieller Bestandteil des Lebens, und als solcher einer der geeignetsten Lehrmeister, schon zu Lebzeiten in seinen Geschmack zu kommen. In Form der Anerkennung seiner Leere, vielleicht sogar als vollständig nachgebendes Nicken zu einer Vergänglichkeit, die unser Dasein überhaupt erst im Sein trägt. Plötzlich geht die Tür der Hütte wie von Geisterhand auf.

Um sein Um wie sein Als fallen zu lassen


Wir haben Martin noch im Ohr als wir zaghaft auf die Wiese vor der Hütte treten. Plötzlich ist es sommerlicher Morgen, eine warm weiche Brise streichelt unser feuchtes Gesicht. Haben wir etwa eine ganze dunkle Nacht nur mit Denken zugebracht? Zwei tannengroße Gestalten bewegen sich anmutig wie majestätisch auf uns zu, sie üben eine unausweichliche Anziehungskraft aus. Beinahe gleichzeitig und überaus distinguiert stellen sie sich uns vor. Sie wären Zeit und Raum, träten nur gemeinsam auf, Diener der Leere.


Sie hätten allen Hüttenbesuchern ein Geschenk zu bringen. Es obläge ihnen, es anzunehmen, in der Hütte zu bleiben sei stets eine Option. Ausgeschlagen hätten es schon viele. Wir nehmen an. Just in diesem Moment verwandeln sich zwei überlebensgroße Wesen vor uns mehr und mehr in eine transparente Silhouette. Wir sehen durch sie hindurch. Die blühende Wiese hinter ihnen kommt uns nicht mehr entfernt vor, sie ist Teil von uns, wie in einem Traum, dessen Landschaft aus demselben Stoff wie der Träumer ist. Auch die Zeit scheint zu stehen. Ein ausgedehnter Augenblick, der alle Zeiten enthält.


Stille.


Leere.


'kenshō', 2022 © Dr. Christine Lehr


Ist nun das Denken aufgegeben?

Aufgewacht in einen Traum?


Aufgewacht aus einem Traum?


Beides nicht auszudenken!


Aber frei.




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