Wie und warum Achtsamkeit die eigene Photographie verwandeln kann
Ein Paradox - einerseits ist die Photographie eine Kunst des Könnens, es gibt viel an Technik zu lernen. Das Zusammenspiel von Blende, Verschlusszeit und ISO Wert zum Beispiel sorgt für die Belichtung eines Photos. Mittels Weißablgleich lässt sich die Farbtemperatur einstellen, gesetzte Fokuspunkte bedingen die Tiefenschärfe mit, und viele andere Kamera Einstellmöglichkeiten mehr. Daneben lässt sich eintauchen in Kompositionsprinzipien, Farbenlehre, und auch in das Studium der Meister, der Photographie, der Malerei. Und viele andere erlernbare Fakten mehr.
Andererseits gibt es denjenigen, der ein Photo macht. Dessen Geist maßgeblich an dieser Kreation beteiligt ist. Im Zen Buddhismus kursiert ein Konzept, das sich am besten mit Anfängergeist übersetzen lässt. Gemeint ist jedoch nicht der Zustand des Geistes, in dem man oben genannte Kenntnisse und Fähigkeiten noch nicht besitzt. Den Anfängergeist zu praktizieren kann für alle Photographen, ob ohne oder mit Erfahrung, ein erstaunliches Mehr an Kreativität bedeuten.
'Vom Anfängergeist', Regensburg, 2021 © Dr. Christine Lehr
Was ist der Anfängergeist? Eine gute Idee davon bekommt man, wenn man beispielsweise an einen Spaziergang durch einen Ort denkt, in dem man schon viele Jahre lebt. Man meint, diesen Ort gut zu kennen, doch eines Tages fällt einem plötzlich die obere Etage einer Häuserfront auf, auf die man zuvor noch nie beachtet hatte. Eine völlig neue Wahrnehmung, jenseits sich wiederholender Eindrücke. Man staunt über die neue Entdeckung!
Der Anfängergeist ist wie ein Bambus, der sich weich und flexibel an Neues anzupassen vermag. In einer Welt, die sich nicht nur und ohnehin ständig wandelt, sondern auch mit faszinierend Neuem und zunächst Ungewohntem in jedem Moment aufwartet, ist der Anfängergeist derjenige, der offen ist und nicht daran bricht. 'Anfänger' zu sein ist in diesem Sinne überaus erstrebenswert, auch weil diese Offenheit Lernen erst möglich macht.
Wenn Kreativität etwas ist, das Sehgewohnheiten hinter sich lässt, Neues versucht, Ungewohntes ausprobiert, gelernte Prinzipien auf den Kopf stellt, indem zum Beispiel herkömmliche Kamerafunktionen zweckentfremdet werden, dann mag einem hier schon eine Herausforderung begegnen. Denn wie lassen sich gewohnte Bahnen verlassen, wie kann man wieder 'Anfänger' werden und gewohnte Dinge für neu wahrnehmen, wenn man schon so viel weiß, oder ein bestimmtes Photo machen möchte, oder man eigentlich im Moment auch schon keine Zeit mehr hat?
Achtsamkeitsmeditation ist eine Weise, diesen Anfängergeist zu kultivieren. Indem man die Aufmerksamkeit möglichst bewertungsfrei auf den Augenblick richtet. Einerseits, und für die sehr Entschlossenen, durch eine regelmäßige Meditationspraxis, andererseits durch eine erhöhte Aufmerksamkeit während seiner photographischen Praxis. Beobachtet man sich mit der Kamera aufmerksam, so mag man sich in dem kostbaren Augenblick wiederfinden, der noch nicht von Gelerntem oder Erinnerungen verstellt ist.
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