Von der Sichtbarmachung des immerwährenden, kosmischen Gesprächs am Beispiel der Selbstopferung Cheirons
In der griechischen Mythologie wird Cheiron, Sohn des Kronos und Halbbruder des Zeus, als ein Mischwesen aus Mensch und Pferd archetypisch dargestellt. Er gilt als Erzieher der Helden Achilleus, Odysseus, Herakles, und bildete Asklepios zum Arzt aus. Daher wird ihm begrifflich gerne die Begründung der 'Chirurgie' beigestellt. In den Olymp mythischer Archetypen ist er durch folgende, prominenteste Version seiner Geschichte eingegangen.
Nach einem entgleisten, dionysischen Weingelage wird Cheiron von einem Giftpfeil am Knie getroffen. Im Angesicht unheilbarer Schmerzen bietet er daraufhin Zeus an, anstelle von Prometheus zu sterben. Dieser war nach seinem Raub des göttlichen Feuers, das er unter die Menschen brachte, in alle Ewigkeit dazu verbannt, festgeschmiedet an einem Fels unsägliche Qualen zu erleiden. Zeus' Wille zufolge konnte dieser seine Freiheit nur wiedererlangen, wenn ein Unsterblicher sein Leben für ihn gab.
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'Wo Cheiron schlief', Regensburg, 2022 © Dr. Christine Lehr
In der christlichen Genealogie wird Jesus als eine Figur gedacht, die ihr Leben ebenfalls für das Leiden anderer gab. In buddhistischen Kontexten erzählt das Ideal des Bodhisattva von einem erleuchteten Wesen, das seinen Eingang in das Nirvana aufschiebt, um Anderen im Samsara, dem Kreislauf des Werdens und Vergehens, zur Erleuchtung zu verhelfen. Ganz im Gegensatz zu sogenannten Arhats, ebenfalls Erleuchtete, die von Samsara völlig losgelöst, nicht wiedergeboren werden.
Der Hierarchie sowohl der mythischen, als auch der religiösen Motive solch archetypischer Überlieferungen lässt sich etwas Besonderes entnehmen. So geht es einerseits, für mythologische Narrative typisch, um Unsterblichkeit im Angesicht der Vergänglichkeit. Mehr allerdings noch um Selbstopferung, um den Handel der eigenen Unsterblichkeit für das Leben, die Freiheit der Anderen.
Derlei Überlegungen in eine photographische Meditation fliessen zu lassen, bedeutet, Bilder nicht nur für den Mythos ausfindig zu machen, sondern anhand dieser so entstandenen Bilder den Mythos zu erneuern. Mythen an denjenigen narratologischen Angeln dann zu beleuchten, die bisher im überlieferten Dunkel lagen, kann für den Photographen in eine psychologische Erhellung eigener archetypischer Verhaltungen münden.
Wie oft findet man sich schliesslich in diesem Kreislauf der Vergänglichkeit in der Trauer über Verluste, ähnlich dem Cheiron, der die Verwandlung seiner Tochter beweint, oder staunt nachträglich über Selbstopferungen zugunsten Anderer, was einen nicht zu einem eigenen Sternbild erhebt, sondern in eine Leere versetzt, deren präsenter, intrinsischer Wert immer wieder neu gefunden werden will. So erzählen Archetypen von dieser Suche, von unserer Verortung in einem Kosmos des ewigen Wandels.
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