Ein philosophisches Licht auf die spirituelle Psychodynamik der Künstlerseele
Was mich während meiner geisteswissenschaftlichen Arbeit zum Thema Achtsamkeit mit am meisten gefesselt hat, war und ist eine Frage - wie ist das mit dem Aufwachen, sind wir schon wach, bedürfen nur der Erinnerung, oder schlafen wir tief und fest, und es braucht etwas mehr. Welche Dynamik innerhalb des Bewusstseins ist am Werk, wenn man in den sogenannten Flow kommt? Gibt es einen Weg dorthin? Lässt er sich üben? Was ist überhaupt Aufwachen und sein Versprechen?
Bevor man sich jedoch an mögliche Antworten macht, sollte man bei so einem gewichtigen Titel zunächst etwas klären. Schliesslich lehnt man sich innerhalb der philosophischen, wie auch und besonders der psychologischen Zunft weit aus dem Fenster, wenn man Begriffe wie Erwachen, Kreativität, und sogar Seele in einem Satz aus ihm posaunt. Darüberhinaus nimmt sich die Annahme einer irgendwie anders gearteten Seele des Künstlers nicht etwa zynisch aus?
Wie der Künstler als Exilant der Höhle
Die Rede vom Aufwachen geht von jemandem aus, der schläft. Man muss nicht erst Platons Höhlengleichnis oder Kants prominente Kritik der reinen Vernunft bemühen, um zu verstehen, dass es beim Ausgang bzw. dem Verlassen des vielleicht selbstverschuldeten Sitzplatzes in der Erkenntnishöhle um einen Wahrnehmungsprozess geht. Vor diesem Hintergrund vollzieht eine Künstlerseele den Ausgang aus der sagenumwobenen Höhle, vom metaphorischen Schlafen zum Erwachen, indem sie etwas kreiert.
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'Wissen als Intuition', 2023 © CL
Hiermit fällt der Zynismus, die Künstlerseele sei anders oder gar besser als eine Nichtkünstlerseele, aus dem oben geöffneten Fenster. Denn der einzige Unterschied besteht in ihrem Drang zur Kreation. Sitzend bzw. schlafend geht das nunmal nicht. Doch im Ernst, warum scheint die Kunst neben dem philosophischen Fragen, wie der christlich ausgerichtete Philosoph Josef Pieper 1947 andeutet, eine der wenigen Sphären zu sein, mit der sich die "Kuppel bürgerlichen Werktages" durchstoßen lässt?
Vielleicht, weil die Sphäre der Kunst in der Theorie gerne auf dem Arbeitstisch der Ästhetik seziert wird. Neben solchen zum Beispiel auch der Psychoanalyse oder Werkimmanenz, doch um bei der Idee der Wahrnehmung zu bleiben, so stammt das Wort Ästhetik als αἴσθησις bzw. aísthēsis aus dem Altgriechischen und bedeutet ebendies, Wahrnehmung und Empfindung. So lässt ein Künstler seinen Platz im Reich der Schattenbilder notwendig dann hinter sich, wenn ihn dort unten etwas angeht, ihm etwas aufstößt an der Wahrnehmung.
Ganz natürlich und vorhersehbar
Schliesslich hat er es zunächst mit Abbildern zu tun, nicht den Dingen selbst. Diese Wahrnehmung, dieses für wahr nehmen, bekommt genau dann einen Riss, oder irritiert bestenfalls über alle Maßen, wenn erkannt wird, dass etwas an dieser Wahrnehmungssituation nicht stimmt. Buddhistische Traditionen stützen sich für diesen phänomenalen Moment auf eine von zwei erklärenden Perspektiven, die beide wesentlich sind für die Frage danach, was unser Bewusstsein überhaupt ist, und innerhalb welcher Dynamiken es agiert.
Das eine Lager, circa aus dem dritten Jahrhundert, nimmt an, unser Bewusstsein sei schon wach, und es liesse sich mit Hilfe meditativer Techniken der Nebel um die Schattenbilder auflösen. Häufig begegnet in diesen Traditionen eine goldene Kugel als Sinnbild für das Bewusstsein, das sich sauber polieren liesse. Der metaphorische Schlaf des Bewusstseins steht für eine Dualität zwischen Subjekt und präferiertem Objekt. Ein Höhlensitzer erliegt demnach dem Trugschluss bzw. hält für wahr, dass es einen Unterschied zwischen ihm und der Welt gäbe.
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'Wissen als Einsicht', 2023 © CL
Problem dabei ist, dass die reale Wirklichkeit, zu der erwacht wird, so jedwede buddhistische Linie, keine Dualität birgt. Das andere, religionsgeschichtlich etwas ältere Lager vergleicht unser Bewusstsein mit einer Lotus Pflanze. Ein Gewächs, das aus dem Matsch empor klettern kann. In dieser Sichtweise ist unser Bewusstsein anfänglich alles andere als wach, in den Matsch schliesslich, zu den Rhizomen, kann kein Licht dringen. Auch hier wird Meditation bzw. Achtsamkeit als heilsames Hilfsmittel verstanden, Dualitäten herkömmlicher Wahrnehmung zu überwinden.
Einen ungewussten Pakt eingeht
Platons Höhle, Kants Idee selbstverschuldeter Unmündigkeit, eine buddhistische, goldene Kugel, oder eine Lotus Pflanze - allesamt Sinnbilder für eine Transformation, die sich in der Wahrnehmung vollziehen kann. Der Künstler als jemand, der etwas kreiert, scheint sich psychologisch in näherer Umgebung dessen aufzuhalten, was diesen Wandel ganz natürlich, ja fast vorhersehbar, begünstigt. Weil er mit Dingen auf derart unkonventionelle Weise hantiert, die prädestiniert ist, einen angenommenen Unterschied zwischen ihm und der Welt zu suspendieren.
Er wagt das Unbekannte. Indem er etwas kreiert, das vorher noch nicht das war. Er kennt es vorher nicht, dieses Unbekannte, das Ungeborene. Doch sein Mut wird belohnt, mit einem Aufhorchen, einem Neugierigwerden, einem Wundern darüber, wer oder was er selbst in diesem Tanz mit dem Unbekannten wohl sein mag. Besonders dann, wenn seine Kreationen ihn an Genuinem selbst übersteigen. Spätestens hier ist der Pakt ungewusst beschlossen, das Fragen und Suchen nach Transzendenz in Gang gesetzt.
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'Dualität des Wissens', 2023 © CL
Bankei Eitaku, japanischer Zen-Meister des 17. Jahrhunderts, legt seinen Zen-Finger auf ebendiese Frage - wer oder was man selbst in diesem Tanz ist. Er lässt sich mit seiner Lehre des ungeborenen Buddha-Geistes im Lager des bereits erwachten Geistes verorten. So schreibt er ca. 1675 in einem Brief an eine alte Zofe, die in einem Samurai-Clan lebte, "jedermanns Geist ist (...) ursprünglich erleuchtet, er wird weder geboren noch sitrbt er". Damit wird natürlich, als Randbemerkung, eine Unterscheidung von Künstlerseele von Nichtkünstlerseele obsolet.
Mit dem Unbekannten als immerwährendem Freund
Während wir alle erwachte Geister zu sein scheinen, liegt das dem Künstler allerdings sehr Dienliche in seinem näheren Aufenthalt zu diesem Ungeborenen. Denn sein eigenes Licht auch wahrzunehmen, bildet charakteristisch den ganzen Weg der Künstlerschaft ab. Doch wie lässt es sich sehen? Schliesslich ist charakteristisch für einen Pakt sein Versprechen. Das Versprechen, die Dualität des Wissens aufzuheben. Nicht dadurch, dass offensichtliche, materiale Unterschiede geleugnet würden, vielmehr indem gesehen wird, dass Unterschiede lediglich im Denken konstruiert werden. Leichter gesagt als gesehen.
Doch Bankei hinterlässt noch einen entscheidenden Hinweis. "Erkenne einfach, dass unser ursprünglicher Geist von Anfang an jenseits der Gedanken ist, und lass dich nicht in diese verwickeln." Sehr verwandt mit dem, was man gemeinhin als Flow erlebt. Er geht jedoch noch weiter - "vergiss Gedanken jeglicher Art, die Liebe zum Guten wie das Verachten des Bösen." Eine existenzielle Herausforderung, womit die Künstlerseele nicht nur aufsteht und die Höhle verlässt, sondern bestenfalls erkennt, was das Unbekannte selbst ist.
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'Das Unbekannte', 2023 © CL
Seinen eigenen Spiegel zu wagen
Das Unbekannte, Ungeborene, mit dem seit jeher ein existenzieller Pakt eingegangen war und bleibt. Ein Spiegel jenseits des Denkens, so auch jenseits von Raum und Zeit. Künstlerseelen, wie auch Nichtkünstlerseelen fanden und finden dieses Jenseits nirgend woanders als in sich selbst. Wo der Unterschied zwischen ihnen sich auflöst, da keine Urheberschaft mehr für Dasjenige beansprucht wird, was kreiert.
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